Tattoo

Wohl zu allen Zeiten wurde beim Militär heftig getrunken. Da es sich aber mit verkaterten Soldaten schlechter kämpfen lässt als mit frisch ausgeschlafenen Mannschaften war es üblich, den abendlichen Alkoholausschank mittels eines Signals zu beenden: Der Zapfenstreich zeigte das Ende des Gelages und die Heimkehr in die Kassematten an. Der holländische Begriff für dieses Signal lautet "Taptoe", also "Zapfen zu", wobei damit wie im Deutschen der Hahn des Fasses gemeint ist, der nun geschlossen wird. Der englische Begriff, dem Holländischen sehr verwandt, lautet "Tattoo".


Handelte es sich beim Zapfenstreich / Taptoe / Tattoo ursprünglich wohl um ein kurzes, unspektakuläres und unbeliebtes Trommelsignal (Drum Salute, Drum Fanfare), so entwickelte es sich im Laufe der Zeit zu einer immer pompöseren Vorstellung, z.B. anlässlich der Begrüßung ausländischer Staatsgäste, anlässlich von "Fahnenweihen" oder von Rekrutenvereidigungen. Das Aufblasen dieses einfachen Signals zum Staatsakt hat natürlich psychologische Gründe: Hier will man sich gegenüber einem potentiellen Aggressor darstellen und den Gast auf diese Weise beeindrucken, dort ein banales Stück Stoff mit einer Aura imprägnieren, den Eid auf diese Fahne mit intensiven Emotionen verknüpfen und so Leidensbereitschaft und "Heldenmut" wecken.

Und doch gibt es große Unterschiede: Während bei "Preußens Gloria" der Zapfenstreich als rein militärisches Ritual exekutiert wird, betrachten die Holländer ein Taptoe eher als Show - mit Marching Bands, spektakulären Effekten und allem Zipp und Zapp, der denkbar ist. Die Briten versuchen, zwischen diesen beiden Extremen die goldene Mitte einzuhalten: Hier halten sich militärisches Gepränge und Showeinlagen die Waage. Ich will versuchen, den Ablauf eines Tattoo am Beispiel des Edinburgh Military Tattoo zu beschreiben.

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Seit 1947 ist Edinburgh Austragungsort des "Edinburgh International Festival", das alljährlich im August veranstaltet wird. Ursprünglich sollte dieses Festival der Katerstimmung begegnen, die nach der anfänglichen Euphorie über die siegreiche Beendigung des Zweiten Weltkrieges um sich griff. Doch die anfänglich als zusätzliches Kulturangebot gemeinte Veranstaltung entwickelte Eigendynamik: Neben Theater und klassischer Musik  entstand aus einem spontanen Straßentheater das "Fringe Festival", das "Rand-Festival", ein Tummelplatz für Gaukler, Musikanten und Avantgarde-Künstler. Zusätzlich wuchsen im Laufe der Jahre ein Film- und ein Buchfestival heran. Der Beitrag des britischen Militärs zu diesem Festival ist ein allabendlich auf der Esplanade exerziertes Tattoo.

Bei der Esplanade handelt es sich um einen großen Platz am oberen Ende der Royal Mile, unmittelbar vor dem Castle, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts als Exerzierplatz dient. Auf diesem Platz werden zum August in U-Form steil aufragende Tribünen errichtet, wobei das Castle die natürliche Kulisse des Spektakels liefert. Auf dem nebenstehenden Foto kann man rechts das Castle und links davon - mit etwas Mühe - die Tribüne erkennen.
Der Blick von Norden nach Osten kann die Dimension der "Schüssel" vielleicht besser verdeutlichen.

Edinburgh Castle wurde auf einem erloschenen Vulkan errichtet, vermutlich von Wikingern. Dieser Umstand erklärt den Namen der Stadt: "Edins Burg". An drei Seiten, im Norden, Westen und Süden, stellen schroff abfallende Felswände ein unüberwindliches Hindernis dar. 

Lediglich zum Osten neigt sich der Berg gemächlich bis zum Holyrood House, dem Palast Mary Stuarts und heutigen Sitz der englischen Royals, wenn sie sich in Edinburgh aufhalten. Die Straße zwischen Castle und Palace ist die Royal Mile. Hier reiht sich Laden an Laden, und historische Sehenswürdigkeiten sind aufgereiht wie Perlen an einer Schnur. Durch kleine Gassen kann man dem Trubel dieser Straße in Hinterhöfe entfliehen, und durch ein Gewirr von Durchgängen, Treppen und Höfen kann man im Norden wie im Süden zum Fuße des Berges gelangen.

Ursprünglich lag die Altstadt südlich des Castles: Hier liegt der Hay Market, früher eine Art Tankstelle, denn die Pferde liefen ja auf Heu... Hier stand auch der Galgen, und die Gruselgeschichten von Männern, die Nachts Gehenkte vom Galgen schnitten oder Leichen ausbuddelten, um sie in der Universität zu verschachern sind - nun, zumindest nicht unwahrscheinlich: Die Universität liegt gleich um die Ecke.

Das Gebiet nördlich des Castle war zu dieser Zeit Sumpf. Später wurde dieser Sumpf trockengelegt und neben dem Bahnhof Waverly Station entstand hier ein wunderschöner Park: Princes Gardens. Nördlich davon, beginnend mit der Princes Street, einer belebten Einkaufsstraße, entstand das neue Edinburg, diesmal nicht verwinkelt, sondern im Schachbrettmuster.

Doch zurück zum Castle: Am Ende der Royal Mile öffnet sich diese zu einem Großen Platz, der Esplanade. Dieser Platz wurde früher von den im Castle stationierten Truppen zum Exerzieren benutzt, heute beherbergt er das Edinburgh Tattoo.

Zwischen Platz und Castle befindet sich ein tiefer Trockengraben, der lediglich von einer relativ schmalen Brücke überquert wird. Jenseits der Brücke befindet sich in einer massiven Mauer ein relativ kleines Tor, d.h. klein ist zwar das Tor, das Torgebäude aber ist sehr trutzig. Hinter diesem Tor öffnet sich ein kleiner, im Bogen steil ansteigender Hof, auf beiden Seiten von Mauern eingegrenzt, die mit Schießscharten versehen sind, die zum  Inneren des Hofes weisen. Am Ende dieses Hofes gebietet ein mächtiges Tor Eindringlingen Einhalt. Eine Mausefalle, die als Vorburg bezeichnet werden könnte. Im Inneren des Castle gibt es eine weitere Verteidigungslinie dieser Art, bevor man in die eigentliche Burg kommt. Eine solche Festung zu stürmen ist der nackte Wahnsinn...

Ein Wahnsinn anderer Art aber ist es, wenn beim Tattoo aus dem Tor Reihe auf Reihe von Pipern und Drummern auf die Esplanade marschiert. Dieser Magie kann man sich nur schwer entziehen...

Und schon sind wir am Ort des Geschehens: Von der Ost-Tribüne aus hat man die beste Aussicht auf die Esplanade und die dahinter aufragende Burg.

Vor Beginn des Tattoo wird das Publikum durch den Moderator, der selbst nie in Erscheinung tritt, ein wenig aufgewärmt: Es ist schon erstaunlich, wenn sich bei der Frage nach der Herkunft der Zuschauer herausstellt, aus welch entfernten Ländern die Gäste wegen des bevorstehenden Spektakels angereist sind.

Dann ertönt eine Fanfare, ein kurzer Moment der Stille tritt ein, und in dieser Stille hört man dann das Kommando eines Drum Majors: "Pipes and Drums - By the Centre - Quick March!" Und nach den dann folgenden Rolls kommt die erste Pipe Band aus dem Tor, und nach ihr quillt Band auf Band aus dem Maul der Burg zu einer ersten Massed Band. Nach und nach füllt sich die Esplanade mit Pipern und Drummern. Sitzt man im Osten kommen diese Bands direkt auf einen zu, countern am Fuß der Tribüne und marschieren wieder zum Tor, um dort erneut zu countern. In der Mitte der Esplanade kommt dann der Pulk zum Stehen um einige Standings zu spielen. Danach marschieren die Pipe Bands aus, und neue Bands treten auf: NATO-Militärkapellen, oder solche aus Ländern des ehemaligen Empire. Und selbstverständlich spielen die einzelnen Pipe Bands alleine und/oder gemeinsam mit den Blechkapellen.
Zivile Showbands, ein Chor und Highland Dancers ergänzen das Programm mit ihren Darbietungen. Da es sich um eine Militärshow handelt wird auch immer eine militärische Einheit vorgestellt, die sich dann mit spektakulären Stunts in Szene setzen kann. Da seilen sich dann Soldaten im Affentempo von der Burg ab oder wehren mit lautem Geknatter erfolgreich einen "terroristischen" Angriff ab.
Glücklicherweise gibt es in jedem Jahr ein Jubiläum zu feiern, und es ist schon imposant, wenn die Bands dann Jahreszahlen oder Initialen (z.B. ER II = Elisabeth Regina (Königin) II.) formieren. Das alles natürlich marschierend, mit Musik und allem Brimborium.
Fester Bestandteil des Tattoo sind Showeinlagen: Afghanische Schwerttänzer, Sambatänzer und Stelzenläufer aus Brasilien...

Am positivsten ist mir die Militärkapelle von Barbados in Erinnerung geblieben: Sie marschierte nicht, sie tanzte in schneeweißen Uniformen auf die Esplanade, angeführt von einem riesigen Drum Major, der mich mit seinem breiten Lachen an Louis Armstrong erinnerte. Diese Band hatte einen Swing und Groove, dass man unwillkürlich mitgehen musste. Eine phantastische Partystimmung machte sich breit im Rund - und die Gewissheit, dass diese Armee unbesiegbar ist: Mit solchen Soldaten möchte man feiern und nicht kämpfen... ;-)

Zwar gibt eine kurze Pause auf halber Strecke, aber man sollte trotzdem mit treibenden Getränken (Kaffee, Bier etc.) äußerst zurückhaltend sein vor dem Tattoo... Hat es vom Beginn des Tattoo bis zur Pause schon eine ständige Steigerung der Darbietungen gegeben, so kann man sicher sein, dass die zweite Hälfte sich auf ein furioses Finale mit allen Teilnehmern ausrichtet. Hier passt dann wirklich keine Maus mehr auf die Esplanade, und Musik wie Präsentation werden zu einem Rausch für die Sinne.

Das Edinburgh Tattoo endet immer auf die gleiche Art und Weise: Die Zuschauer erheben sich und singen gemeinsam "Auld Lang Syne", die heimliche Nationalhymne Schottlands. Zum Zeichen der Verbundenheit werden die Arme vor der Brust überkreuzt und die Hände den Nachbarn gereicht: So bildet sich eine große Kette von Gleichgesinnten. Und dann steht auf den Zinnen der Burg ein "Lonely Piper", und eine leise Weise schwebt von oben in das Karree der Tribünen. Mit dem letzten Ton des Tunes fängt die obere Batterie an, aus allen Rohren zu feuern, und an den Wochenenden ist dies die Einleitung zu einem grandiosen Feuerwerk, das nach einer kleinen Kunstpause den Himmel über dem Castle erhellt.

Und dann erhebt man sich von seinem Sitz, reibt sich den Hintern, damit er wieder die normale Form bekommt, schwört - wie schon beim letzten Mal - im nächsten Jahr doch eines von diesen sündhaft teuren Kissen zu mieten und verlässt die Tribüne - benommen, begeistert und gleichzeitig ein wenig traurig, weil es vorbei ist. Aber es gibt ja einen Trost: Ab Dezember können Karten für das nächste Jahr bestellt werden.


Weitere Informationen zum Edinburgh Military Tattoo:

Homepage:
Edinburgh Military Tattoo

Zukünftige Tattoo Termine:
6-28 August 2004
5-27 August 2005
4-26 August 2006
3-25 August 2007

Informationen:
The Tattoo Office
32 Market Street
Edinburgh EH1 1QB
Tel: +44(0)8707 555 1188
Fax: +44(0)131 225 8627

Email: edintattoo@edintattoo.co.uk