Ein Liebherr Turmdrehkran der Baureihe K
Zur Biomechanik
der Bass Drum

oder: 
Warum Bass Drummer eine tragende Rolle  spielen...


An anderer Stelle habe ich mich darüber geärgert, dass gewisse Produzenten von Bass Drum Carriern etc.  offensichtlich keine Ahnung von Anatomie und Biomechanik haben. Allen Produzenten von Bass Drum Tragesystemen habe ich bei gleicher Gelegenheit vorgeworfen, die Wirbelsäule unnötig zu belasten statt das Gewicht der Drum anderweitig abzufangen. Wer sein Maul so voll nimmt sollte sich auf entsprechende Fakten stützen können. Nun: Hier sind sie...


Anatomische und physiologische Basisinformationen


Abb.1: Sitzendes Skelett

I. Knochen bilden das Grundgerüst unseres Bewegungsapparates: An ihnen entspringen die Muskeln, an ihnen setzen sie an und entfalten so ihre Wirkung. - Muskeln können sich lediglich kontrahieren (zusammenziehen), für die Entspannung brauchen sie einen Gegenspieler (Ant-agonisten). Agonist und Antagonist bilden gemeinsam die "muskuläre Schlinge". Muskeln wie Knochen sind schmerzunempfindlich. - Äußerst schmerzempfindlich sind jedoch Knochenhaut (Periost) und die Sehnenansätze (Insertionen).

II. Je höher die Spannung (Tonus) der Muskulatur ist, desto stärker ist der Zug am Periost/Sehnenansatz. Jenseits einer bestimmten Schwelle wird dieser Zug als Schmerz an das zentrale Nervensystem (Gehirn) gemeldet. Vom Gehirn kommt daraufhin der Befehl, dieses Areal zu schonen. Schonung kann über Entlastung und Entspannung erreicht werden, aber auch ein auf den ersten Blick paradoxer Weg kann beschritten werden: Der Muskeltonus im schmerzenden Bereich wird erhöht, um so unnötige Bewegungen zu blockieren. Dieser Weg kann Sinn machen, aber auch zum Unsinn werden: Über verstärkten Zug kann zusätzlicher Schmerz entstehen, der über die Rückkopplung zu erneuter Tonuserhöhung und erneuter Schmerzverstärkung führt: Ein klassischer Fehlerkreislauf...

III. Auf den Körper wirken verschiedene physikalische Kräfte wie z.B. die Schwerkraft ein. Diese Kräfte können zu ernsthaften Schädigungen des Körpers führen. Die im freien Fall erfahrene Beschleunigung stellt kein Problem dar, wohl aber die abrupte Bremsung: Eine solide Betonplatte, die diesen Fall bremst, dürfte fatal sein. Aber auch die "langsamen" Aspekte der Schwerkraft können schaden: Ich erinnere mich hier an eine Hochgebirgswanderung mit schwerem Rucksack und resultierenden massiven Knieproblemen, die zum Abbruch des  Trecks zwangen.

Biomechanik

Ich habe lange überlegt, wie ich die Probleme eines Bass Drummers am besten verständlich machen kann: Schließlich bin ich auf die Idee gekommen, ein Beispiel zu benutzen:


Abb.2: Aus dem Handbuch des "Liebherr 48 K"

Betrachten wir doch einmal diesen bildschönen "Turmdrehkran 48 K" der Firma Liebherr: Er bewegt im Baugewerbe zuverlässig schwerste Lasten. Seine Anatomie ist schnell beschrieben: Der senkrecht aufragende Turm steht auf einer Lafette mit einer winzigen Grundfläche von nur 4,4 x 4,2 Metern. Der Ausleger kann in Abhängigkeit vom Abstand zum Turm verschiedene Gewichte auf seinen Haken nehmen: Zunehmender Abstand vom Turm reduziert das mögliche Traggewicht. Das Nackenseil, umgeleitet über Nackenstangen,  verbindet den Ausleger  mit dem Gegengewicht am Fuß des Turmes und hält so das System in der Waage.

Die Stabilität des Systems hängt davon ab, dass die Balance zwischen Last und Gegengewicht erhalten bleibt. Ein Überschreiten der Ecklast, also der Last, die am Fuße des Turms auf die dem Lastarm zugewandte Seite einwirkt, würde zum Umstürzen des Kranes führen.

Die Konstruktion ohne Gegengewicht (Ballast) wiegt 20.050kg, der Ballast kann bis zu 25.020kg betragen. Die maximale Auslegerlänge beträgt 35 Meter: Hier können dann noch 1.250kg gehoben werden. Ich bitte darum, diese Zahlen und Dimensionen kurz abzuspeichern.

Warum wähle ich ausgerechnet dieses Beispiel? Nun: Denken wir uns den Turm als Wirbelsäule, so finden wir auch im Körper ähnliche Proportionen, nur dass die Verhältnisse beim Kran offensichtlicher sind. Hier ist auf den ersten Blick klar, dass der Ausleger gegenüber den Nackenstangen "am längeren Hebel sitzt". 

Doch zunächst einige mechanische Grundregeln: Eine Kraft wird mit einem Pfeil dargestellt und mit dem Buchstaben F (engl. force) bezeichnet. Gewichte werden in Kilogramm gewogen (z.B. 5kg), die dabei auf sie einwirkende Erdanziehungskraft mit Kilopond (5kp) oder Newton (50N) bestimmt. Vereinfachend kann also gesagt werden, dass ein Kilogramm einem Kilopond oder zehn Newton entspricht.

Wirkt eine Kraft (F) aus einem gewissen Abstand (r) auf einen Punkt ein, so übt sie ein Drehmoment auf diesen Punkt aus. Das Drehmoment wird mit dem Buchstaben M bezeichnet und als Vektorprodukt folgendermaßen berechnet:

M = r x F

Bezeichnet r den kürzesten Abstand, den die Wirkungslinie der Kraft F vom Drehpunkt hat, dann ist es eine Eigenschaft des vektoriellen Kreuzproduktes, das man sagen kann: "Multipliziert man eine Kraft mit deren Hebellänge, so erhält man das Drehmoment." Bei gleicher Kraft ist die Länge des Hebels ausschlaggebend. Mit anderen Worten: Ein und dieselbe Kraft kann bei unterschiedlicher Hebellänge völlig unterschiedliche Auswirkungen auf das zu drehende Objekt ausüben.

Einige Beispiele: Mit einem 20cm langen Schraubenschlüssel entsteht bei einer Kraft von 50N ein Drehmoment M1 von 10Nm. 

Ist der Schlüssel 30cm lang, so entsteht bei gleicher Kraft ein Drehmoment M2 von 15Nm.

Bei einem Schlüssel von 50cm Länge resultiert M3 mit 25Nm.


Abb.3: Hebel und Drehmoment 
(
Die hier verwendete Bezeichnung l für die Hebellänge entspricht in etwa der im Text verwandten Bezeichnung r.)


Abb.4: Gewicht der verschiedenen Körperteile

Übertragen wir nun diese mechanischen Prinzipien auf den Körper und halten uns gleichzeitig das Bild vom Kran präsent. Meine maximale Brustkorbtiefe beträgt 25cm. Die Stärke meiner Rückenmuskulatur schätze ich auf 5cm. Damit bleiben 20cm übrig, die nach vorne über die Wirbelsäule hinausragen. Nehmen wir an, der Schwerpunkt des Oberkörpers liege etwa 15cm vor der Wirbelsäule und nehmen wir weiter an, der Oberkörper wiege ca. 30kg ( bei einem tatsächlichen Körpergewicht von 64kg).

Auf Höhe der Lendenwirbelsäule würde dann von vorne mit einem Hebel von 15cm eine Kraft von 30kg oder 300N auf die Wirbelsäule einwirken.

Wie hoch muss das erforderliche "Gegengewicht" sein, um weiterhin den aufrechten Gang zu gewährleisten? Mit anderen Worten: Mit welche Kraft muss die Rückenmuskulatur ziehen? Bezeichnen wir einfach die Kraft der Rückenmuskulatur mit FRM und spitzen den Rechenstift:

Das Gleichheitszeichen in dieser Formel zeigt sehr schön an, dass vor (15cm x 300N) und hinter der Wirbelsäule (5cm x  FRM) ein Gleichgewicht bestehen muss. Die "Goldene Regel der Mechanik" bringt diesen Umstand folgendermaßen auf den Punkt:

Last mal Lastarm = Kraft mal Kraftarm.

Berechnen wir nun die notwendige Kraft der Rückenmuskulatur:

Hier zeigt sich in beeindruckender Weise die Wirkung des Hebels: 15/5 = 3! Die Rückenmuskulatur muss bei einem Hebel von nur 5cm der mit dem Hebel von 15cm vorne einwirkenden Kraft von 300N oder 30kg die dreifache Kraft - nämlich 900N oder 90kg - entgegensetzen, um das Gleichgewicht wieder herzustellen!

Auf die Wirbelkörper wirkt - völlig klar - an dieser Stelle die Summe beider Kräfte, also 300N + 900N =1200N! Das entspricht bereits einer Last von 120kg. Bitte nicht vergessen: Wir reden hier von dem, was Normalzustand sein sollte - vom aufrechten Gang!


Abb.5: Normales Drehmoment im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS)

Abb.6: Drehmoment einer Bass Drum

Setze ich nun meine Trommel auf so ändert sich das  schlagartig: Mein normales Gewicht von 64kg steigt auf 77kg, also um 12 Prozent. Je nachdem, mit welchem Tragesystem ich als Bass Drummer die Trommel trage,  entstehen plötzlich völlig neue Belastungen.

Grundsätzlich gilt natürlich, dass die Beine das Zusatzgewicht von 13kg zu tragen haben und das dies zu Belastungsspitzen in  Hüft- und Kniegelenken führen kann, insbesondere bei abschüssigen Wegen (Beispiel Bergwanderung!)

Abgesehen von der nach unten gerichteten Kraft des Trommelgewichtes kommt es jedoch auch zu einer Hebelwirkung auf die Wirbelsäule, weil ja die Trommel weit nach vorne über den normalen Körperschwerpunkt hinausragt.

Schauen wir uns einmal diese neuen Verhältnisse und deren Wirkung auf die Lendenwirbelsäule an:

Normalerweise wiegt mein Oberkörper 30kg, über den Hebel von 15cm werden daraus 90kg, die von der Rückenmuskulatur gehalten werden müssen.

Vernachlässigen wir einmal Carrier und Beater: Die Trommel wiegt 10kg, das entspricht einer Kraft von 100N, und hat einen Durchmesser von 75cm. Legen wir den Schwerpunkt in die Mitte der Trommel, so wirkt eine Kraft von 100N mit einem Hebel von 62,5cm auf meinen Körper. Wieso ausgerechnet 62,5cm?

Ein Hebel von 62,5cm: Da muss ja die Belastung im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS) in astronomische Höhen schnellen! Zunächst wieder die Formel für das Gleichgewicht:

Und nun die Berechnung der Kraft, die von der Rückenmuskulatur aufgebracht werden muss:

Das bedeutet: Zu den von den Wirbelsäulenkörpern schon getragenen 1200N kommen noch einmal 1230N (aus der Rückenmuskulatur) und 100N (Gewicht der Trommel).

Das macht 2530N und entspricht in etwa einer Last von 253kg.

Eine nicht unerhebliche Belastung, nicht wahr? Habe ich die Trommel geschultert, so verdoppelt sich dadurch die Belastung meiner Lendenwirbelsäule. Aber wir reden ja nicht über ein kurzes Anheben und Absetzen der Trommel, eine kurze Be- und schnelle Entlastung: Wir reden über das ausdauernde Tragen einer Bass!

 Ich beobachte bei mir, dass ich diese Belastung völlig unterschiedlich wahrnehme und er-trage: "On the mach" schwingt die Trommel, sie hüpft auf und ab, es entsteht ein Wechsel von Be- und Entlastung, der mir das Leben erleichtert und ein relativ ausdauerndes Tragen der Bass ermöglicht. Ganz im Gegensatz hierzu kann eine Probe im Stand unerträglich sein: Die Anfangs angenehm zu tragende Trommel wird schwerer und schwerer bis sie schließlich wie ein Mühlstein an mir zieht. Wer sich das nur schwer vorstellen kann, der wiederhole doch einfach das gute alte Experiment mit dem Bierglas: Man nehme ein gefülltes Glas und halte es mit gestrecktem Arm so lange wie möglich... Vielleicht ist es vor diesem Hintergrund nachvollziehbar, dass Bass Drummer ausschweifenden Reden und Diskussionen nicht gerade wohlgesonnen sind...

Vor- und Nachteile der verschiedenen Tragesysteme:

Natürlich wird diese Belastung durch das Tragesystem modifiziert. Selbstverständlich versucht auch jeder Bass Drummer, sich Gutes zu tun: Hier habe ich als extremste Variante einen englischen Bass Drummer vor Augen, der weit zurückgebeugt wie ein Limbo-Tänzer unter seiner Trommel stand: Ein groteskes Bild...

 

Belastbarkeit und Alter

Als wichtigen Aspekt möchte ich das Alter des Drummers nicht unerwähnt lassen. Mit meinem ausgewachsenen Skelett kann ich das Gewicht der Trommel und ihr Drehmoment ertragen. Ein jugendliches, noch wachsendes Skelett wird von dieser Last aber unter Umständen überfordert. Das kindliche Skelett ist weicher, elastischer, und die Knochen sind alles andere als solide: Wachstumsfugen gewährleisten die Möglichkeit des Wachsens, stellen aber mit ihrer knorpeligen Konsistenz auch natürliche Schwachstellen des kindlichen Skelettes dar. Überlastung kann hier zum Abscheren im Bereich einer Wachstumsfuge führen. Die Behandlung solcher Abscherungen ist kompliziert, Wachstumsstörungen können resultieren und lebenslange Probleme verursachen. Mit dem Eintreten der Geschlechtsreife (Mädchen heute ca. 10 - 11 Jahre, Jungen ca. zwei Jahre später) schließen sich die Wachstumsfugen unter dem Einfluss der nun einschießenden Sexualhormone, das Längenwachstum kommt peu à peu zum Stillstand. Diese biologischen Fakten haben zum Verbot der Kinderarbeit beigetragen, und es ist wohl nicht zu bestreiten, dass das Spielen der Bass etwas mit Arbeit zu tun hat. Sowohl Eltern als auch Pipe Bands sei daher nahegelegt, ärztlichen Rat über die Belastbarkeit des Nachwuchses einzuholen und bei der Wahl des Instrumentes zu berücksichtigen. Von verschiedenen Firmen werden leichtere Trommeln gezielt für Kinder und Jugendliche angeboten: Hierüber sollte man sich sachkundig machen. Grundsätzlich gilt dies aber auch für erwachsene Drummer: Vor dem Kauf einer Trommel sollte man sich über die technischen Daten informieren, und dazu gehören nicht nur die Maße, sondern auch das Gewicht!

Konstitution

Aus sportmedizinischer und biomechanischer Sicht gibt es unterschiedliche Konstitutionstypen, die zu jeweils unterschiedlichen Leistungsprofilen führen. Das eine Extrem ist der schlanke Speerwerfer, der mit seinen langen Hebeln ("Übersetzung"!) leichte Gewichte hervorragend beschleunigen kann. Das andere Extrem ist der kompakt gebaute Bogenschütze, der mit seinen kurzen Hebeln ("Untersetzung"!) schwere Gewichte bewältigen kann. Als Faustregel sei also nahegelegt, eher einen kompakten, untersetzten Menschen mit der Bass zu betrauen als einen zierlichen, hochaufgeschossenen Lulatsch: Der Lange wird eher und nachhaltiger Rückenprobleme bekommen als der Kompakte. Ach ja: Den Beat sollte er/sie natürlich auch noch halten können... ;-)


Danksagung:

Ein herzlicher Dank an Dr. Ferdinand Tusker, Lehrstuhl für Bewegungs- und Trainingslehre der TU München, für die kritische Durchsicht des Manuskriptes und seine humorvollen Korrekturen. Sein abschließender Kommentar sei dem Leser nicht vorenthalten:

"Alle Betrachtungen gelten unter einfachsten modellmäßigen Vorstellungen. Sie berücksichtigen nicht, dass Kräfte sich als Druck auf größere Flächen verteilen, ebenso vernachlässigen Sie die Zugrichtung der Muskeln, sowie die Wirkung, welche die Bänder haben. …

Zu den Tragesystemen ist zu sagen, dass sie sehr wohl zu einer Reduktion der Wirbelsäulenbelastung beitragen. Am einfachsten (Wirbelsäulen schonend) hätte es der Drummer, wenn er es machen würde wie die wassertragenden Frauen in den von der Technik weitgehend verschont gebliebenen Ländern: Er macht sich ein festes Holzgestell und trägt auf der einen Seite eine Trommel und auf der anderen eine zweite. Das hätte zudem den Vorteil, dass er auch "hinten" Musik (Rhythmus) machen könnte. (Nicht so ganz ernst nehmen: Die Technik schon, aber die Musikbemerkungen nicht!).

Alles Liebe und Gute

Ihr

Ferdi Tusker"


Freund Volker wurde von diesem Text zu einem Comic inspiriert:..


...und auch ich erinnerte mich an eine Variante der "Goldenen Regel":


Weiterführende Literatur & Bildnachweis:

Calais-Germain, Blandine (1994): Anatomie der Bewegung. Technik und Funktion des Körpers. Wiesbaden : Fourier. (Abb. 1 + 4)

Gernhard, Robert; Bernstein, F.W.; Waechter, F.K. (1980): Welt im Spiegel. WimS 1964-1976. Frankfurt am Main : Zweitausendeins. (Aus dem Tierreich)

Peterson, Lars; Renström, Per (1987): Verletzungen im Sport. Handbuch der Sportverletzungen und Sportschäden für Sportler, Übungsleiter und Ärzte. Köln : Deutscher Ärzte-Verlag.

Weineck, Jürgen (1994): Sportanatomie. 9., überarbeitete Auflage - Balingen : Perimed-spitta, Med. Verl.-Ges.

Wirhed, Rolf (1988): Sport-Anatomie und Bewegungslehre. Stuttgart, New York : Schattauer. (Abb. 3 + 5)

Sudhues, Hubert (2002): Archers Shoulder & Archers Brain Anmerkungen zum Thema Schulterschmerz. Traditionell Bogenschiessen, 24/2002. (Man ersetze den Begriff "Bogenschütze" durch den Begriff "Drummer" und bekommt so einen guten Überblick über Belastbarkeit, Überlastung, Therapie und Rehabilitation... ;-)