Das Getüm
 von Suderwick

  oder

  Wie ein Drama doch noch
   zu einem guten Ende fand


Vor unserem Haus stand mitten auf dem Rasen ein riesiger, uralter Apfelbaum, ein Boskop mit wunderschöner Krone und knorrigem Stamm. Er stand da, weil es ihm offensichtlich gefiel, sich hier die Sonne auf den Buckel scheinen zu lassen. Und offensichtlich  stand er schon recht lange da, bemoost wie er war...

In seinem Schatten haben wir manches Sommerfest gefeiert, und auch die Hängematte trug er ruhig und zuverlässig. Im Herbst schenkte er uns Äpfel, aus denen wir Saft pressen konnten, und diese oder jene Ente habe ich mit seinen Früchten gestopft.

Im Herbst 2002 war es über Nacht vorbei mit der Pracht: Ein Sturm hatte unseren Methusalem entwurzelt.

Zunächst wollte ich es nicht glauben: Dieser Baum gehörte zum Haus, zur Landschaft. So einen knorrigen Kerl kann man doch nicht einfach knicken!

Ich brachte und brachte es nicht übers Herz, aus unserem guten Freund Feuerholz zu machen. Und so strich ich denn mit hängendem Kopf um das herum, was einmal ein stolzer Baum war.

Aber ob ich wollte oder nicht: Irgendwann musste ich wohl Axt und Säge zur Hand nehmen. Aber ich wollte auf keinen Fall schnell und hastig zur Tat schreiten: Der alte Baumbart (Humhomhomhom) ging mir durch den Sinn...
Und so entfernte ich zunächst nur das dünne Geäst und die zerschmetterten Äste. Ich arbeitete langsam, und während ich das tat nahm mehr und mehr ein Bild Gestalt an in meinem Kopf.
Jahrelang hatte ich gedacht,  ein Apfelbaum stünde in unserem Garten. Nun stellte ich zu meinem Erstaunen fest, dass uns seit Jahr und Tag ein Getüm beschützt und beschattet hatte.

Wem Getüme unbekannt sind: Es handelt sich um sehr gutartige, üblicherweise recht große Lebewesen. Natürlich es gibt auch Ausnahmen, dazu aber später. Die Getüme sind eng verwandt mit den Geheuern, aber doch anders: Geheuer sind etwas kleiner und lila.

Jedem geläufig sind Begriffe wie "Ungetüm" oder "Ungeheuer". Ungetüme und Ungeheuer kommen in freier Natur nicht vor: Man findet sie jedoch nicht selten in der Politik.

Wie auf diesem Portrait unschwer zu erkennen ist ein Getüm eher grünlich und hat einen äußerst lebhaften und intelligenten Blick Auch hieran kann man - auf den ersten Blick - den Unterschied zwischen einem Getüm und einem Ungetüm (vulgo "Politiker") erkennen.

Die Kopfhaltung zeigt reges Interesse an der Umgebung, wobei jedoch auch eine natürliche Bescheidenheit und Demut mitschwingt. Jedwede Bösartigkeit ist diesem Wesen fremd.

Zu des Pudels Kern vorgedrungen galt es nun, dem alten Herrn aus dem Mantel zu helfen: Die Tarnung in Form von Rinde und Moos war ja nicht länger erforderlich. 
Ich war schon froh, dass mir einige fleißige Zwerge bei dieser beschwerlichen Arbeit halfen: Mit ihren kleinen Werkzeugen stellten sie doch eine schöne Hilfe dar.
Schließlich war es vollbracht: Das Getüm lag in seiner ganzen Schönheit auf dem Rasen und genoss die Wintersonne.

Im Hintergrund, links vom Haus, zwischen den Lebensbäumen und den Rhododendren, hinten im Eck bei der dicken Birke: Hier sollte das Getüm sein Altenteil bekommen.

Im Frühjahr kam ein Bagger und baggerte den Rasen um. Wege wurden angelegt und ein Schattengarten gepflanzt. Vorher aber half der Bagger dem Getüm auf seinen neuen Thron aus Kies: Getüme mögen keine nassen Füße.

Das Wasser, mit dem ich den Garten im nächsten Sommer sprengte, färbte das Getüm rotbraun...

...und so wacht es heute über diesen Teil des Gartens und das Haus.

Und offensichtlich gefällt es ihm hier sehr gut - es hat sich  Nachwuchs eingestellt. Da sich Getüme bekanntlich nur fortpflanzen , wenn sie sich rundum pudelwohl fühlen, darf ich wohl annehmen, dass wir genau die rechten Bedingungen geschaffen haben.

Natürlich fielen wir aus allen Wolken als plötzlich dieses Babytüm in unserem Garten lag - waren wir doch davon ausgegangen, es mit einem männlichen Getüm zu tun zu haben. Auch ist uns das "wie" völlig schleierhaft: Zum Fortpflanzungsverhalten der Getüme können wir nichts sagen - außer, dass es sehr leise und heimlich vonstatten gehen muss.

Am Anfang dieser Geschichte deutete ich an, dass nicht alle Getüme groß seien. Was ich damit sagen wollte war - auch Getüme fangen klein an. Aber wem sage ich das: Es gibt ja genügend Eltern, die diese Erfahrung längst gemacht haben.

Doch wer weiß: Vielleicht wird eines Tages das kleine Getüm aufstehen, sich schütteln und mich zum Spielen auffordern - wir werden sicherlich viel Spaß haben... ;-)

Selbstverständlich habe ich inzwischen auch Kontakt zu Nils-Olof Berggren, dem schwedischen Parlamentsombudsmann aufgenommen: Ich weiß zwar nicht, ob er für uns zuständig ist, aber ich würde schon gerne meine kleine Getüm-Familie unter Artenschutz gestellt wissen. 

Man muss vorsichtig sein heutzutage: Ruckzuck kommt ein Korinthenkacker daher, legt die Stirn in Falten, errechnet die Getüm-typische Trittbelastung und argumentiert, dass schon die reine Existenz des Getüms die  bodenbrütenden Insekten in ihrem Brutgeschäft stört.

Blödsinn?

Alles schon da gewesen!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Frankfurter Rundschau 05-05-04