Robert M. Pirsig: 
 Über das Bergsteigen.

 

 

 


Berge sollte man mit möglichst wenig Anstrengung und ohne Ehrgeiz ersteigen. Unsere eigene Natur sollte das Tempo bestimmen. Wenn man unruhig wird, geht man schneller. Wenn man zu keuchen anfängt, geht man langsamer. Man steigt auf den Berg in einem Zustand, in dem sich Rastlosigkeit und Erschöpfung die Waage halten. Dann, wenn man nicht mehr in Gedanken vorauseilt, ist jeder Schritt nicht mehr bloß Mittel zum Zweck, sondern ein einmaliges Ereignis. Dieses Blatt ist gezähnt. Dieser Felsen scheint locker. Von dieser Stelle aus ist der Schnee nicht mehr so gut zu sehen, obwohl man ihm schon näher ist. Das sind Dinge, die man ohnehin wahrnehmen sollte. Nur auf irgendein zukünftiges Ziel hin zu leben, ist seicht. Die Flanken des Berges sind es, auf denen Leben gedeiht, nicht der Gipfel. Hier wächst etwas.

Das heißt, ohne den Gipfel gibt es natürlich auch keine Flanken. Der Gipfel ist es, der die Flanken festlegt. Und so steigen wir weiter . . . wir haben noch viel vor uns. . . nur keine Hast. .. immer schön einen Fuß vor den andern gesetzt. . . und zur Unterhaltung eine kleine Chautauqua* . . . Innere Betrachtungen anzustellen ist viel interessanter als Fernsehen, und es ist eine Schande, daß nicht mehr Menschen darauf umschalten. Sie denken wahrscheinlich, daß alles, was sie hören, unwichtig ist, aber das ist es nie.

(...)

Chris ist immer noch vor mir, aber seine Bewegungen wirken nur noch müde und verdrossen. Er stolpert andauernd, bleibt an Ästen hängen, anstatt sie zur Seite zu biegen.

Mir tut er ja leid. Schuld daran ist zum Teil auch das YMCA- Ferienlager, in dem er die letzten zwei Wochen vor unserer Abfahrt verbracht hat. Nach allem, was er mir erzählt hat, hatten die das als eine einzige große Selbstbestätigungsorgie aufgezogen. Nach dem Motto »zeigen, was für ein Kerl man ist«. Er mußte zunächst in eine rangniedere Gruppe, der anzugehören sich eigentlich, so bedeutete man ihm, jeder schämen müsse. . . Erbsünde. Dann durfte er sich einer langen Reihe von Bewährungsproben unterziehen - schwimmen, Knoten knüpfen. . . er hat mir mindestens ein Dutzend aufgezählt, aber ich habe das meiste wieder vergessen.

Die Kinder machten natürlich mit viel mehr Begeisterung mit, wenn man ihnen Ziele setzte, die der Selbstbestätigung dienten, aber letzten Endes wirkt solche Motivation destruktiv. Jedes Streben, dessen Endzweck Selbstverherrlichung ist, muß unweigerlich zur Katastrophe führen. Jetzt müssen wir dafür bezahlen. Wenn man versucht, einen Berg zu besteigen, um zu beweisen, was für ein toller Kerl man ist, schafft man es fast nie. Und wenn, dann ist es ein Pyrrhussieg. Damit der Sieg nicht verblaßt, muß man immer wieder auf andere Arten seine Tüchtigkeit beweisen, immer und immer und immer wieder, ständig bestrebt, einem falschen Idealbild gerecht zu werden, geplagt von der Angst, daß dieses Bild nicht wahr ist und jemand dahinterkommen könnte. Das hat noch nie zu etwas Gutem geführt.

Phaidros schrieb einen Brief aus Indien, über eine Wallfahrt zum heiligen Berg Kailas, dem Sitz Schiwas hoch droben im Himalaja, wo der Ganges entspringt, in Begleitung eines Heiligen und seiner Anhänger.

Er kam nicht bis auf den Berg. Nach drei Tagen gab er auf, am Ende seiner Kräfte, und die Pilger zogen ohne ihn weiter. Er schrieb, er hätte physische Kraft genug gehabt, aber physische Kraft allein reiche nicht aus. Auch die intellektuelle Motivation sei vorhanden gewesen, aber auch das sei nicht genug. Er glaube nicht, daß er anmaßend gewesen sei, aber er glaube, er habe die Pilgerfahrt unternommen, um seine Erfahrung zu bereichern, um seinen Gesichtskreis zu erweitern. Er habe versucht, den Berg und auch die Pilgerfahrt für seine eigenen Zwecke zu benutzen. Er habe sich selbst für den Mittelpunkt gehalten, nicht die Pilgerfahrt oder den Berg, und sei deshalb nicht reif gewesen dafür. Er äußerte die Vermutung, daß die anderen Pilger, diejenigen, die den Berg erreicht hatten, wahrscheinlich die Heiligkeit des Berges so intensiv spürten, daß für sie jeder Schritt ein Akt der Hingebung, ein Akt der Unterwerfung unter diese Heiligkeit war. Ihr eigener Geist sei von der Heiligkeit des Berges erfüllt worden und deshalb hätten sie viel mehr aushalten können als er, obgleich er körperlich kräftiger sei als sie.

Dem ungeübten Beobachter erscheinen vielleicht ichbezogenes Bergsteigen und ichloses Bergsteigen als ein und dasselbe. Obwohl grundverschieden, setzen beide Bergsteiger einen Fuß vor den andern. Beide atmen im selben Rhythmus ein und aus. Beide machen Rast, wenn sie müde sind. Beide gehen weiter, wenn sie sich ausgeruht haben. Aber welch ein Unterschied! Der ichbezogene Bergsteiger ist wie ein falsch eingestelltes Gerät. Er setzt seinen Fuß einen Augenblick zu früh oder zu spät auf. Er übersieht wahrscheinlich, wie schön das Sonnenlicht in den Bäumen spielt. Er geht immer noch weiter, wenn die Unsicherheit seiner Schritte schon anzeigt, daß er müde ist. Er macht zu wahllosen Zeiten Rast. Er schaut den Weg hinauf, um zu sehen, was ihn erwartet, auch wenn er es schon weiß, weil er eine Sekunde zuvor schon einmal hinaufgeschaut hat. Er geht zu schnell oder zu langsam für die herrschenden Bedingungen, und wenn er redet, spricht er unweigerlich von anderswo, von etwas anderem. Er ist hier und ist doch nicht hier. Er lehnt sich auf gegen das Hier, ist unzufrieden damit, möchte schon weiter oben sein, doch wenn er dann oben ist, ist er genauso unzufrieden, weil eben jetzt der Gipfel das »Hier« ist. Worauf er aus ist, was er haben will, umgibt ihn auf allen Seiten, aber das will er nicht, weil es ihn auf allen Seiten umgibt. Jeder Schritt ist eine Anstrengung, körperlich wie geistig-seelisch, weil er sich sein Ziel als äußerlich und weit weg vorstellt.

Das ist jetzt offenbar auch Chris' Problem.


* Chautauqua: "Was ich mir vorstelle, ist eine Chautauqua - eine andere Bezeichnung fällt mir nicht ein - nach Art jener wandernden Sommerschulen, die einst mit ihren Zelten durch Amerika zogen (...) und populäre Vorträge hielten, die erbauen und unterhalten, den Verstand schärfen und den Zuhörern Kultur und Aufklärung bringen sollten." (S.15 f)


Aus:
Robert M. Pirsig (1995): Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten. Fischer Verlag GmbH : Frankfurt am Main.
S.215 f und S.222 f. (Org.: Zen and the Art of Motorcycle Maintenance. 1974, Bantam Press, New York)


Anmerkung
Der Pirsig begleitet mich seit beinahe 20 Jahren und hat meine Entwicklung nachhaltig beeinflusst. Ich weiß nicht, wie oft ich das Buch gelesen - und wie oft ich es gekauft habe: Verleiht man es, bekommt man es nicht zurück, verschenkt man es, erntet man in der Regel fragende Blicke: Zen? Motorrad? Was hat er jetzt wieder?