Des
Francois Rabelais
weiland Arznei-Doktors
und Pfarrers zu Meudon

Gargantua und
Pantagruel

Habt ihr schon einmal einer Flasche den Hals gebrochen? Prosit! Entsinnet euch, bitte, was für ein Gesicht ihr dabei schnittet. Oder habt ihr schon einmal einen Hund betrachtet, der einen Markknochen fand? So ein Hund ist euch, wie Plato lib. 11 de Rep. sagt, das philosophischeste Tier von der Welt. Wenn ihr ihn gesehen habt, fiel euch sicherlich auf, wie gierig er das Bein eräugte, wie sorgsam er es bewachte, wie vergnügt er es aufschnappte, wie verständig und liebevoll er es zerbiß und mit welcher Hingebung er es ausschlürfte. Wer lehrte ihn solches Tun? Was ist das Ziel seiner Hoffnung? Was bezweckt er damit? Nichts als ein Krümlein Mark! Allerdings ist dies Krümlein köstlicher als mancher Brocken, denn das Mark ist das gehaltvollste Nahrungsmittel der Natur, wie Galen urteilt, III. Facult. nat., et XI, De Usu partium.

Nach diesem Vorbild sollt ihr klug sein, erwerbslustig und kühn auf dem Sprung, um solch schöne, markige Bücher aufzuspüren, zu erhaschen und wert zu halten. Und sollt alsdann mit Neugier und Bedachtsamkeit den Knochen zerbeißen und die Kraft-Substanz aussaugen (d. h. das, was ich unter diesem pythagoräischen Gleichnis verstanden wissen will), immer in der Absicht, durch so betriebene Lektüre wacker und weise zu werden; denn hier sollt ihr ganz neuen Schmack und tiefgründige Lehren finden, die euch gar kräftige Formeln und grausliche Geheimnisse enthüllen sowohl in Betreff unsrer Religion als auch der Politik und Ökonomie.


Aus:
Des Francois Rabelais Weiland Arzneidoktors und Pfarrers zu Meudon Gargantua und Pantagruel. 1974, Biederstein   Verlag München. S.5 (Prolog des Verfassers)

Rabelais lebte zwischen  ca. 1490 und 1553 ein sehr bewegtes Leben als Arzt, Pfarrer, Saufaus und Autor von Schriften, die ihn wiederholt zu plötzlichem Ortswechsel zwangen: Die Alternative wäre der Scheiterhaufen gewesen... ;-) Bei "Gargantua und Pantagruel" handelt es sich um die Mutter der Schelmenromane, prall, drall, gigantisch, überbordend. En passant hat Rabelais mit diesem Werk die Form des Romans erfunden, ein echtes Stück Literaturgeschichte also. (Nebenbei bemerkt: Der fast zeitgleich geschriebene Eulenspiegel fällt gegen dieses Buch glatt durch... ;-)