Das Sterben wird heute aus dem Blickfeld verdrängt. Der französische Sozialhistoriker Philippe Aries nennt diese moderne Erscheinung in seiner klassischen Darstellung der Kultur des Sterbens den "unsichtbaren Tod": Der Tod als hässliches und schmutziges Ereignis werde in unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr geduldet und deshalb hinter die Mauern von Pflegeeinrichtungen oder Kliniken verbannt. 

Der heimliche Tod im Krankenhaus kam sehr diskret in den dreißiger und vierziger Jahren. In den fünfziger Jahren war er bereits weit verbreitet... Unsere Sinne ertragen den Anblick und die Gerüche nicht mehr, die im neunzehnten Jahrhundert wie Krankheit und Leid zum täglichen Leben gehörten. Diese physiologischen Wirkungen sind aus dem Alltagsleben entschwunden und in die sterile Welt der Hygiene, der Medizin und der Moralität eingegangen. Die vollkommene Erscheinungsform dieser Welt ist das Krankenhaus mit seiner Zellendisziplin... Auch wenn es nicht immer zugegeben wird, so ist das Krankenhaus für die Familien doch der Ort, wo sie ihren unschönen Kranken, den weder die Welt noch sie ertragen, verstecken können... Das Krankenhaus ist zum Ort des einsamen Todes geworden. 

In den USA sterben inzwischen 80 Prozent aller Menschen in Kliniken. 1949 lag die Zahl noch bei 50 Prozent, 1958 waren es 61 Prozent, 1977 bereits 70 Prozent. Diese hohen Zahlen erklären sich nicht nur aus der Notwendigkeit, Schwerstkranke intensiv medizinisch zu betreuen, was nur in Kliniken mit teuren Apparaturen und geschultem Personal möglich ist. Eine viel größere Rolle spielt in den meisten Fällen die Ächtung des Todes durch die Gesellschaft. 

Die Einsamkeit des Sterbens ist als Phänomen schon so verbreitet, dass zahlreiche gesellschaftliche Kräfte inzwischen dagegen mobil machen. Die Ärzte sollten sich dieser Bewegung anschließen. Es gibt bereits ein ganzes Spektrum von Haltungen, wie mit dem Sterben umgegangen werden kann, von der klugen Voraussicht, rechtzeitig eine Erklärung zu verfassen, welche medizinischen Mittel zur Verlängerung des Lebens gegebenenfalls ausgeschöpft werden sollen, bis hin zur Propagierung des Freitodes durch allerdings fragwürdige Gesellschaften. Dabei geht es letztlich immer um dasselbe: uns die Hoffnung zu erhalten, dass nicht die medizinische Hochtechnologie und ein anonymes Krankenhauspersonal uns im Sterben begleiten, sondern Menschen, die uns wirklich nahe stehen. 

Wer seine Hoffnung darauf setzt, dass zur Verlängerung seines Lebens keine sinnlosen Anstrengungen unternommen werden, für den bedeutet ein Sterben in Würde vor allem eines: beim Sterben Menschen um sich zu haben, die ihm im Leben etwas bedeutet haben. Voraussetzung für dieses würdige Sterben ist freilich ein erfülltes Leben und die Bereitschaft, den eigenen Tod als ein notwendiges Mittel der Natur anzusehen, Platz für unsere Nachkommen zu schaffen und so den Fortbestand der biologischen Art zu sichern. Wer dies einsieht, wird begreifen: Am Ende unseres Lebens steht der Tod und nicht der Versuch, das Sterben zu verhindern. Der atemberaubende Fortschritt der Wissenschaft in unserem Jahrhundert hat dazu geführt, dass unsere Gesellschaft hier falsche Akzente setzt. Der Sterbende muß im Drama des Todes als Hauptfigur wieder ganz in den Mittelpunkt rücken. Die Ärzte als Nebenfiguren oder Zuschauer haben sich diskret im Hintergrund zu halten. 

Die Menschen früherer Zeiten haben die letzte Stunde auf dem Sterbebett als feierlichen und heiligen Augenblick begriffen, soweit die Umstände es zuließen, als Akt, in dem das letzte Beisammensein des Sterbenden mit seinen Angehörigen zelebriert wurde. Todgeweihte erwarteten diesen Abschied, und er wurde ihnen nicht grundlos versagt. Er war ihr und der Angehörigen wichtigster Trost für den bevorstehenden Verlust und das Leid, das diesem Augenblick zumeist vorangegangen war. Und für viele Sterbende verband sich mit einem solchen Sterben in Geborgenheit die Hoffnung auf die Erlösung und ein Weiterleben nach dem Tod.

Sherwin B Nuland

Aus: Nuland, Sherwin B: Wie wir sterben : ein Ende in Würde? München: Kindler, 1994