Robert M. Pirsig:
   Über Qualität

Ich sprach vorhin von der ersten Welle der Kristallisation außerhalb der Rhetorik, die sich aus Phaidros' Weigerung, Qualität zu definieren, ergab. Er musste sich die Frage beantworten: Wenn du sie nicht definieren kannst, was lässt dich dann glauben, dass sie überhaupt existiert?

Seine Antwort war nicht neu, sie entstammte einer philosophischen Richtung, die sich Realismus nennt. »Ein Ding existiert«, sagte er, »wenn eine Welt ohne es nicht normal funktioniert. Wenn uns der Nachweis gelingt, dass eine Welt ohne Qualität nicht normal funktioniert, haben wir damit gezeigt, dass die Qualität existiert, ob sie nun definiert wird oder nicht.« Hierauf ging er daran, von einer Beschreibung der Welt, wie wir sie kennen, die Qualität zu subtrahieren.

Das erste Opfer einer solchen Subtraktion, sagte er, wären die schönen Künste. Wenn man in den Künsten nicht mehr zwischen gut und schlecht zu unterscheiden vermag, verschwinden sie. Es ist witzlos, ein Bild an die Wand zu hängen, wenn die nackte Wand genauso gut aussieht. Man kann auf Symphonien verzichten, wenn das Knistern von der Platte oder das Brummen des Plattenspielers sich genauso gut anhören.

Die Poesie würde verschwinden, weil sie nur selten einen Sinn gibt und keinen praktischen Wert hat. Und auch die Komödie würde interessanterweise verschwinden. Kein Mensch würde mehr über Witze lachen, denn der Unterschied zwischen Humor und Humorlosigkeit ist reinste Qualität.

Als nächstes ließ er den Sport verschwinden. Fußball, Baseball, alle sportlichen Wettbewerbe und Spiele würden verschwinden. Die erreichten Punktzahlen wären nicht länger Maßstäbe für etwas Sinnvolles, sondern bloß leere Statistiken, wie die Anzahl der Steine in einem Kieshaufen. Wer würde solche Wettkämpfe besuchen? Wer an ihnen teilnehmen?

Als nächstes subtrahierte er die Qualität vom Wirtschaftsgeschehen und sagte voraus, was für Konsequenzen das haben würde. Da Geschmacksqualität keine Bedeutung mehr hätte, würden die Supermärkte nur noch Grundnahrungsmittel wie Reis, Maismehl, Sojabohnen und Weizenmehl führen; daneben auch noch etwas Fleisch, gleich welcher Sorte, Milch zum Aufziehen von Säuglingen sowie Vitamin- und Mineralpräparate zur Verhinderung von Mangelerscheinungen. Alkoholische Getränke, Tee, Kaffee und Tabak würden verschwinden. Ebenso Filme, Tanzveranstaltungen, Theater und Partys. Wir würden nur noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Wir würden alle die gleichen billigen Schuhe tragen.

Ein sehr hoher Prozentsatz von uns wäre ohne Arbeit, aber das wäre wahrscheinlich nur vorübergehend, bis man uns für grundlegende qualitätslose Aufgaben heranzöge. Angewandte Naturwissenschaft und Technik würden drastisch verändert, aber reine Wissenschaft, Mathematik und Philosophie, speziell Logik, würden unverändert bleiben.

Phaidros fand besonders diesen letzten Aspekt äußerst interessant. Die rein intellektuellen Beschäftigungen wurden von der Subtraktion am wenigsten berührt. Wenn man die Qualität aufgäbe, bliebe nur die Rationalität unverändert. Das war seltsam. Wie sollte man sich das erklären?

Er wusste es nicht, aber eines wusste er: Indem er von einem Bild der Welt, wie wir sie kennen, die Qualität subtrahierte, hatte er einen Bedeutungsumfang dieses Begriffs aufgedeckt, von dem er selbst nichts geahnt hatte. Die Welt kann ohne Qualität funktionieren, aber das Leben wäre so öde, dass es kaum noch lebenswert wäre. Es wäre überhaupt nicht mehr lebenswert. Das Wort wert drückt Qualität aus. Das Leben wäre bloßes Existieren, ohne jeden Wert und ohne jeden Sinn und Zweck.

Er blickte auf die Wegstrecke zurück, die er mit diesem Gedankengang zurückgelegt hatte, und kam zu der Überzeugung, dass er den Beweis erbracht hatte. Da die Welt offensichtlich nicht normal funktioniert, wenn die Qualität subtrahiert wird, existiert die Qualität, ob sie nun definiert wird oder nicht.

Nachdem er diese Vision einer qualitätslosen Welt heraufbeschworen hatte, entdeckte er daran schon bald Ähnlichkeiten mit einer Anzahl Gesellschaftsformen, von denen er gelesen hatte. Das antike Sparta fiel ihm ein, das kommunistische Russland mit seinen Satelliten, Aldous Huxleys Schöne neue Welt und George Orwells 1984. Er erinnerte sich auch an Menschen aus seinem eigenen Leben, die diese qualitätslose Welt gutgeheißen hätten. Es waren dieselben, die ihn dazu bringen wollten, sich das Rauchen abzugewöhnen. Sie wollten rationale Gründe für sein Rauchen hören, und als er keine hatte, taten sie sehr überlegen, als hätte er das Gesicht verloren oder sowas. Bei ihnen musste man für alles Gründe und Pläne und Lösungen haben. Sie waren dieselbe Sorte Mensch wie er. Die Sorte, die er jetzt aufs Korn nahm. Und um diese qualitätslose Welt in den Griff zu bekommen, suchte er lange Zeit nach einem passenden Ausdruck, der diese Sorte Mensch charakterisierte.

Es war vor allem eine intellektuelle Grundhaltung, aber es war nicht eigentlich der Intellekt, der ausschlaggebend war. Es war eine gewisse Grundannahme, eine vorgefasste Meinung, dass der Lauf der Welt durch Gesetze - Vernunft - bestimmt sei und dass der Fortschritt der Menschheit hauptsächlich durch die Entdeckung dieser Gesetze der Vernunft und ihre Anwendung zur Erfüllung ihrer eigenen Wünsche zu bewerkstelligen sei. Dieser Glaube war es, der alles zusammenhielt. Er besah sich eine Zeitlang mit zusammengekniffenen Augen dieses Bild einer qualitätslosen Welt, fügte ihm noch ein paar Details hinzu, dachte darüber nach, besah es sich dann wieder eine Weile und dachte noch ein bisschen nach, um schließlich an seinen Ausgangspunkt zurückzukehren.

Squareness.

Das war's. Squareness. Wenn man Qualität subtrahiert, bleibt jene rein intellektuelle, pedantische, spießige Grundhaltung übrig, die von der Beat-Generation schlicht als »square« bezeichnet wurde. Die totale Abwesenheit von Qualität ist die Essenz von Squareness.

Er musste an ein paar befreundete Künstler denken, mit denen er einmal durch die Vereinigten Staaten gefahren war. Es waren Neger, und sie hatten sich ständig über eben die Qualitätslosigkeit beklagt, um die es ihm jetzt ging. Square. Das war ihr Ausdruck. dafür. Schon lange bevor die Massenmedien den Ausdruck. übernahmen und er sich daraufhin auch im Sprachgebrauch der Weißen einbürgerte, hatten sie all diesen intellektuellen Kram, den sie für sich grundsätzlich ablehnten, als »square« bezeichnet. Und es war grotesk gewesen, wie er und sie ständig aneinander vorbeigeredet hatten, weil er ein Musterexemplar eben dieser squareness gewesen war, von der sie andauernd sprachen. Je mehr er sich bemüht hatte, sie beim Wort zu nehmen, um so undeutlicher hatten sie sich ausgedrückt. Und jetzt, mit seinen Aussagen über Qualität, schien er genau dasselbe zu sagen und sich genauso undeutlich auszudrücken wie sie, obwohl das, worüber er sprach, so hart und klar und fest umrissen war wie nur irgendein rational definierter Gegenstand, mit dem er sich je befasst hatte.

Qualität. Das war es, wovon sie andauernd geredet hatten. »Mann«, hatte einer von ihnen einmal gesagt, »jetzt halt aber mal gefälligst die Luft an und verschon uns mit deinen ewigen Sieben-Dollar-Fragen. Wenn du die ganze Zeit bloß fragst, was es ist, wirst du nie so weit kommen, dass du es weißt.« Seele. Qualität. Ein und dasselbe?

Die Wellen der Kristallisation rollten eine nach der anderen heran. Er sah zwei Welten, gleichzeitig. Auf der intellektuellen Seite, der »squareness«-Seite, erkannte er jetzt, dass Qualität ein Spaltbegriff war. Wie ihn jeder intellektuelle Analytiker sich wünscht. Man nimmt sein analytisches Messer, setzt die Spitze genau auf den Begriff Qualität, klopft einmal darauf, gar nicht fest, nur ganz leicht, und die ganze Welt teilt sich, zerfällt glatt in zwei Hälften - hip und square, romantisch und klassisch, humanistisch und technologisch -, und der Bruch ist sauber. Es gibt keine Scherben, keinen Abfall, keine Splitter, die ebensogut hier- wie dorthin passen würden. Man braucht für einen solchen Bruch nicht nur Geschick., sondern auch viel Glück. Es kommt vor, dass die besten Analytiker das Messer an der naheliegendsten Spaltlinie ansetzen und trotzdem nur einen Haufen Trümmer bekommen. Und da war nun die Qualität, ein feiner, kaum wahrnehmbarer Sprung, ein Haarriss der Unlogik in unserer Vorstellung vom Universum, und man brauchte nur anzutippen, und das ganze Universum zersprang in zwei Teile, so glatt, dass man es kaum glauben konnte. Er wünschte sich, dass Kant jetzt lebte. Kant hätte es zu schätzen gewusst. Dieser Meister der Diamantschneidekunst. Er hätte es verstanden. Qualität undefiniert lassen. Das war das Geheimnis.


Aus:
Robert M. Pirsig (1995): Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten. Fischer Verlag GmbH : Frankfurt am Main.
S.227 ff (Org.: Zen and the Art of Motorcycle Maintenance. 1974, Bantam Press, New York)


Anmerkung
Der Pirsig begleitet mich seit beinahe 20 Jahren und hat meine Entwicklung nachhaltig beeinflusst. Ich weiß nicht, wie oft ich das Buch gelesen - und wie oft ich es gekauft habe: Verleiht man es, bekommt man es nicht zurück, verschenkt man es, erntet man in der Regel fragende Blicke: Zen? Motorrad? Was hat er jetzt wieder?